ENVERA
BOSNIEN UND
HERZEGOWINA
21 JAHRE
„Unsere kulturelle Vielfalt ist für
mich beides:
Ein untrennbarer Teil meines Erbes – und meiner Zukunft.“
Das Gedächtnis ist eine trügerische Sache. Manche von uns können sich kaum an ihren ersten Schultag erinnern, aber dann können wir ein zufälliges Ereignis aus unserer Kindheit benennen, das den Verlauf unseres Lebens für immer geprägt hat. Für Envera war es dieses:
Im zarten Alter von sieben Jahren entdeckte sie die Freude am Zeichnen. Es war ein Funke, der etwas in ihr entzündete. Bald darauf bemerkte eine aufmerksame Lehrerin ihr Talent. Sie ermutigte sie, weiterzumachen und meldete sie zu einem Zeichenwettbewerb an. Envera gewann schließlich. Diese Erfahrung prägte sie zutiefst. Es ging ihr nicht um den Sieg, sondern um die Erkenntnis, die sie hatte. Sie entdeckte nicht nur, welches Gebiet sie wirklich interessierte. Dieser Moment lehrte sie, dass Talent allein nicht alles ist. Man braucht auch Disziplin, Routine und die Bereitschaft, die Arbeit zu erledigen. Wenn man beides hat, kann man alles erreichen, was man sich vornimmt.
Enveras ausgeprägte Arbeitsmoral und ihre unersättliche Neugier brachten sie nach Sarajevo, wo sie derzeit an der Philosophischen Fakultät einen Doppelabschluss in Englischer Sprache und Literatur sowie in Kunstgeschichte macht. Ihr bevorstehender Abschluss ist für sie von immenser Bedeutung. Er wird nicht nur beweisen, dass sich ihr eigener Ehrgeiz gelohnt hat, sondern auch, dass sich im Generationensinn die harte Arbeit ihrer Eltern und Großeltern gelohnt hat. Enveras Eltern konnten aufgrund des Konflikts in den 90er Jahren nicht zur Schule gehen, daher wird sie die erste in ihrer Familie sein, die einen Universitätsabschluss hat.
Obwohl das Diplom eine ihrer größten Errungenschaften bisher ist, ist es nicht die wichtigste. Die andere ist, dass sie in ihrem Studienfach arbeiten kann, was nicht die Regel ist, da Kunst und Kultur in Bosnien und Herzegowina trotz der langen Geschichte und des reichen multikulturellen Erbes häufig nicht ausreichend finanziert werden, erklärt sie. Und genau dieses Erbe, ein komplexes Gefüge aus unterschiedlichen Kulturen, Ursprüngen und Religionen, hat Enveras Wahrnehmung der Welt, wie sie heute ist, unausweichlich geprägt.
Wenn es um die Zukunft geht, insbesondere im Kontext des Berliner Prozesses, bleibt Envera optimistisch. Der Wunsch, Mitglied der Europäischen Union zu werden, ist seit Jahrzehnten ein lang gehegter Wunsch Bosniens und Herzegowinas, und sein Ruf, sein Einfluss und seine Bewunderung sind ungebrochen – obwohl der Brexit einen Wendepunkt in der Wahrnehmung der EU darstellte. Angesichts der aktuellen Fragilität der Europäischen Union hält sich der verbreitete, aber zynische Witz, dass die Europäische Union in zwei Hälften zerbrochen sein wird, wenn Bosnien und Herzegowina der EU beitritt. Dem kann Envera nicht zustimmen. Sie ist zutiefst davon überzeugt, dass die Jugend diejenigen ist, die die notwendigen Veränderungen vorantreiben kann. Deshalb sieht sie ihre eigene berufliche Zukunft in der Zusammenarbeit mit jungen Menschen in einem kulturellen Kontext, weil sie weiß, was das bewirken kann.
Während ihres Studiums lernte Envera, dass Kunst selbst ein mächtiges Instrument für den Dialog ist, aber auch das Publikum muss von Grund auf aufgebaut werden. Kinder müssen schon in jungen Jahren in einen respektvollen Dialog, Toleranz und ein Bewusstsein für Vielfalt einbezogen werden, damit sie diese Werte auch als Erwachsene mitnehmen können.
Für Envera ist es etwas, das im Großen und Ganzen die Gesellschaft als Ganzes betrifft. Wenn es nur eine Person gibt, die wirklich erkennt, wer Sie sind, und die an Sie glaubt, kann das Ihr ganzes Leben verändern. Jetzt strebt sie danach, eines Tages diese Person für jemand anderen zu werden.